Mutter-Kind-Gespräch

Aufklärung heute

Sich mit dem Kind hinsetzen und von Aids bis Zungenkuss alles bereden – so geht Aufklärung nicht. Wie dann? Sexualpädagogin Luise Treu weiss es.

Luise Treu, warum ist Aufklärung so wichtig?

Wir wünschen uns bezüglich Sexualität selbstsichere und selbstbestimme Kinder. Sie sollen Möglichkeiten und Grenzen kennen und Gesehenes und Gehörtes einordnen können. Dafür braucht es sexuelle Bildung. Je mehr ein Kind über Sexualität weiss, desto besser kann es einordnen, was ihm begegnet, und desto kompetenter kann es handeln. Studien zeigen, dass aufgeklärte Jugendliche später Geschlechtsverkehr haben und später Eltern werden. Wird Sexualität hingegen tabuisiert, öffnet das Tür und Tor für Grenzverletzungen und Missbräuche.

 

Wann soll Aufklärung beginnen?

So früh wie möglich, am besten schon im Babyalter. Auf dem Wickeltisch benennen Eltern ja gerne die Körperteile des Kindes. Interessant: Bei diesem Spiel werden Geschlechtsteile oft unterschlagen. Dabei ist das der Anfang der Aufklärung: sich mit dem eigenen Körper vertraut zu machen, auch mit dem Penis und der Vulva.

 

Wann ist es Zeit für die «richtige» Aufklärung?

Aufklärung ist nicht ein einmaliger Event. Sie geschieht vielmehr beiläufig und dem Alter und Interesse des Kindes entsprechend. Nutzen Sie jede Gelegenheit, um immer und immer wieder im Alltag über Sexualität zu reden. Eine Nachbarin ist schwanger? Besprechen Sie, wie das Baby in den Bauch gekommen ist. Ein Profisportler hat sich geoutet? Diskutieren Sie darüber am Mittagstisch.

 

Und wenn die Kinder das einfach nur peinlich finden?

Dann probieren Sie es in ein paar Wochen auf eine andere Art und Weise wieder. Vielleicht versuchen Sie es bei einem Spaziergang oder im Auto, also in einer Situation ohne direkten Augenkontakt. Es kann aber auch sein, dass das Kind den Dialog scheut, sich aber eigentlich sehr für Sexualität interessiert.

 

Was dann?

Stellen Sie Ihrem Kind diverses Material zur Verfügung. Lassen Sie entsprechende Bücher herumliegen, hängen Sie Zeitungsartikel an den Kühlschrank, teilen Sie Links zu Podcasts, Websites, Songs und Filmen. Das Kind wählt selbst, was wann passt. Bleiben sie ohne Druck dran. Sie wollen schliesslich das Feld nicht dem Internet überlassen.

 

Warum eigentlich nicht?

Weil Sie dann keinen Einfluss mehr auf die Qualität der Inhalte haben. Beteiligen Sie sich an der Aufklärung Ihres Kindes. Sie kennen seine Grenzen und können einschätzen, wann es Zeit ist für bestimmte Informationen. Ausserdem ist die Aufklärung eine wunderbare Gelegenheit, Ihrem Kind zu zeigen: «Du kannst mit mir über alles reden.»

 

Was, wenn mein Kind besser Bescheid weiss über Sexualität als ich?

Das wird nicht passieren. Heutzutage wissen Jugendliche tatsächlich viel über Sexualität. Nur: Dieses Wissen ist sehr punktuell. Kindern und Jugendlichen fehlt der Kontext, und darum brauchen sie Erwachsene.

 

Haben Sie hierzu ein Beispiel?

Ein Teenager sieht in einem Porno ein Squirting, also eine weibliche Ejakulation. Er weiss jetzt, dass es so etwas gibt. Was er aber nicht weiss: Gehört Squirting zu jedem Sex dazu? Ist das wirklich toll oder tut die Frau im Film nur so? Mich ekelt das an – bin ich nicht normal? Es geht um das Einordnen, und das schafft ein Teenager nur schwer allein.

 

Squirting, Sexting, Safer Sex: Besonders lustvoll scheint Aufklärung für Eltern nicht zu sein.

Es gibt viele spannende und positive Medien und Zugänge. Finden Sie heraus, was Ihnen liegt und wer sonst mit dem Kind über bestimmte Themen sprechen kann. Mein Rat: Respektieren Sie eigene und fremde Schamgefühle, bleiben Sie am Ball und vergessen Sie nie die Kernbotschaft.

 

Die wäre?

Sexualität soll weder verängstigen noch beschämen. Sie soll vor allem eins: Freude machen.

 

Über die Expertin

Luise Treu ist Sexualpädagogin bei der Stiftung Berner Gesundheit. Zu deren Kernaufgaben gehören Gesundheitsförderung, Prävention, Sexualpädagogik sowie Suchtberatung und -therapie.

www.bernergesundheit.ch

Expertin Luise Treu

Link-Tipps

  • Du bist kein Werwolf: Eine Serie über das Leben während der Pubertät. Zu finden auf kinder.wdr.de
  • Podcasts zu Themen wie «Trans sein und werden», «Küssen und das Erste Mal», «Verliebt, verknall – und nun?» – alles auf frag-mal-agi.de
  • Auf www.lilli.ch gibt es Beratung und viele Infos über Sexualität, Verhütung, Gewalt und Beziehung
  • Beratung und Infopool für junge  LGBT+ Menschen und Interessierte: www.du-bist-du.ch
  • Für Eltern: Die 7 Präventionsbotschaften, von «Dein Körper gehört dir!» bis «Du bist nicht schuld». Alle Botschaften unter www.sexualerziehung-eltern.ch

Über die Autorin

Eva Wirth (38) lebt mit ihrem Partner und den drei Kindern (null, drei und sechs Jahre) in einem Dorf nahe Zürich. Im Alltag der fünf kommen eher Lieder von Mani Matter zum Zug als Tipps aus Erziehungsratgebern. Eva Wirth arbeitet als Redaktorin, macht derzeit aber Babypause.

Eva Wirth